1838
Im April 1838 trafen sie sich hier mit Familienangehörigen und Bekannten. Ein wichtiges Anliegen der Brüder war es bei diesem Treffen, sich mündlich über ihre Pläne zum „Deutschen Wörterbuch“ auszusprechen. Dabei ging es auch um die Erörterung der genauen Verlagskonditionen und ein diesbezügliches Angebot des Verlegers Karl Reimer.
Nach Jacobs politisch erzwungener Übersiedlung nach Kassel lebten er und Wilhelm, der in Göttingen geblieben war, getrennt und hatten sich nur brieflich über das Wörterbuch-Projekt verständigen können. Dementsprechend findet sich eine deutliche Spur des Heiligenstädter Zusammentreffens von 1838 im Briefwechsel der Brüder mit den Verlegern des „Deutschen Wörterbuchs“ Karl Reimer und Salomon Hirzel.
Auf Reimers Brief und Angebot vom 6. April (Kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 58 f., Nr. 9) antwortet Jacob, „Cassel 26. apr. 1838.“:
„Werthester freund,
Unsere erklärung auf Ihren antrag ist durch den erst vor einigen tagen ausgeführten plan einer zusammenkunft in Heiligenstadt, wo wir uns mündlich berathen wollten, verzögert worden. Ich stehe nun nicht länger an Ihnen bestimmt zu antworten.
[…]“ (Ebd., S. 59 f., Nr. 10)
Einen kleinen Einblick in diese „zusammenkunft in Heiligenstadt“ gibt Jacob in seinem Brief an Wilhelm vom 24. April:
„Lieber Wilhelm, ich bin sonnabend nachmittag gegen 5 uhr mit dem Luis wieder hier eingezogen; wie schnell gewöhnt man sich an einen ort und an seine geringe bequemlichkeit, ich fühlte mich nach der rückkehr ordentlich wie zuhause, obgleich ich euch eben erst verlassen hatte, aber an einem dritten ort, und bloss nach einigen stunden unruhiger wiedervereinigung. wenn dir, Dortchen, und den kindern nur der rauhe wind, zumal beim gang in die kirche, nichts geschadet hat. Ich blieb mit der Dahlmann bis abends 10 uhr zusammen und sonnabend morgen noch eine halbe stunde. Zu Grossalmerode, wo mittag gegessen werden sollte, aber wie gewöhnlich nichts zu haben war ausser eiern und käse, trafen wir mit einem schulmeister und einer art von actuar zusammen, die von dem Witzenhäuser einzug ergötzlich redeten. der letzte erzählte mir ins gesicht, ohne mich zu kennen, den Grimm habe er dort auch gesehn.
[…] wir müssen in unsern umständen sparen, besonders da mich diese heiligenst. reise 17 rthlr. gekostet hat. doch wars des geldes werth, nicht wahr?“ (Kritische Ausgabe, Bd. 1.1, S. 636 f., Nr. 387; s. auch Wilhelms Antwortbrief: Ebd., S. 637, Nr. 388)
Offenbar trennten sich Jacob und Wilhelm im Verlauf des 20. April (Freitag) wieder, weswegen Jacob dem Bruder von seiner Beschäftigung am Abend und darauffolgenden Morgen berichten muss. Wilhelm und die übrigen Göttinger (mindestens noch Dortchen und Herman Grimm) verließen also vielleicht schon am Freitag wieder Heiligenstadt. Neben der nicht unbeträchtlichen Wegstrecke zwischen Göttingen und Heiligenstadt (ca. 30 km) spricht auch Wilhelm Grimms Tagebucheintrag von 1841, man habe „dieselben zimmer, die wir im j. 1838 inne hatten“ (zitiert nach dem Katalog: Die Brüder Grimm in Berlin. Stuttgart 2004, S. 66), gehabt, dafür, dass auch die Göttinger 1838 in Heiligenstadt übernachtet haben. Ob ihr Aufenthalt aber evtl. noch vor dem dann als wahrscheinliches Ankunftsdatum anzunehmenden 19. April (Donnerstag) begann, kann nach unserem bisherigen Kenntnisstand nicht abschließend beurteilt werden. Als weiteres Indiz für die genauen Reisedaten könnte lediglich eine auffällige Lücke in der Briefproduktion beider Grimms aufgeführt werden. Soweit bekannt, schrieben sie in dieser Zeit bis zum 16. April regelmäßig mindestens einen Brief pro Tag, zwischen 17. und 21. April jedoch schrieb keiner von ihnen auch nur einen Brief. Danach wäre es denkbar, dass beide schon am 17. April von Kassel und Göttingen aufbrachen und im Verlauf des Tages in Heiligenstadt zusammentrafen. In dieser Konstellation hätten Wilhelm und die anderen Göttinger Mitreisenden vom 17. (Dienstag) bis 20. April (Freitag), Jacob, Ludwig Emil und sonstige aus Kassel mitgereiste Personen vom 17. bis 21. April (Sonnabend) in Heiligenstadt verweilt. Gegen diese These eines mehrtätigen Treffens der Grimms spricht freilich einerseits Jacobs oben zitierte Äußerung von „einigen stunden unruhiger wiedervereinigung“, andererseits auch Wilhelms Brief an Karl Lachmann vom 27. April, in dem er explizit auf den 20. April (Freitag) als den offenbar einzigen Tag der Zusammenkunft verweist:
„Wir hatten vorigen Freitag, (die Kinder waren auch mit) ein Rendezvous mit Jacob in Heiligenstadt. Er war wohl und sah in einem schönen Pelzkragen, den sie ihm dort geschenkt haben, ganz stattlich aus.“ (Leitzmann, Bd. 2, S. 894, Nr. 48)
Luise Dahlmann und ihre (Stief-)Tochter Dorothea kamen vermutlich mit den Göttingern nach Heiligenstadt, um von hier aus weiter nach Jena zu reisen, wo sich ihr Mann bzw. Vater Friedrich Christoph Dahlmann derzeit aufhielt. So schreibt Jacob Grimm an diesen am 28. April 1838:
„Liebster Freund, Luise und Dorothee werden, denke ich mir, letzten Sonntag oder vielleicht erst Montag, wohlbehalten bei Ihnen angelangt sein. Es war eine hübsche Zusammenkunft in Heiligenstadt, wobei nur Sie fehlten.“ (Ippel, Bd. 1, S. 162, Nr. 97)
Eduard Ippel nimmt in seiner Briefedition desweiteren für einen offenbar unmittelbar vorhergehenden Brief Jacob Grimms an Dahlmann als Absendeort Heiligenstadt und als ungefähres Datum den April 1838 an (Vgl. Ippel, Bd. 1, S. 162, Nr. 96). Der betreffende Brief erhält im Wesentlichen nur eine kurze Mitteilung über die Position der Grimms zum Wörterbuch-Projekt, die sich inhaltlich, was den Stand der Verlagsverhandlungen angeht, in der Tat sehr gut in eben diese Zeit des Heiligenstädter Treffens 1838 einfügen lässt.
Der genaue Unterkunftsort der Grimms 1838 in Heiligenstadt erschließt sich durch Texte über Grimms Reise 1841 von Kassel nach Berlin. Herman Grimm schreibt sowohl in einem Notiz- und Skizzenbuch, als auch in einem Brief an Ludwig Emil Grimm und andere Kasseler Verwandte vom „deutschen Haus“ als Ort der Unterkunft. (Siehe hierfür ausführlicher den Beitrag zum Heiligenstädter Aufenthalt 1841.) Zusammengenommen mit Wihelm Grimms oben bereits zitiertem Tagebucheintrag, in welchem er die Heiligenstädter Unterkünfte beider Aufenthalte miteinander identifiziert, beantwortet dies die Unterkunftsfrage auch für 1838 eindeutig.